Ein Vorsteuerüberhang aus dem Insolvenzeröffnungsverfahren ist mit Umsatzsteuer aus vorinsolvenzlicher Zeit zu saldieren. Es erfolgt keine direkte oder analoge Anwendung des § 55 Abs. 4 Insolvenzordnung.
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Bedeutung des BFH-Urteils vom 11. Dezember 2024 zur Umsatzsteuer im Insolvenzverfahren

Mit Beschluss vom 11. Dezember 2024 (Aktenzeichen: XI R 1/22) hat der Bundesfinanzhof (BFH) klargestellt, dass ein sich für den Zeitraum des vorläufigen Insolvenzverfahrens ergebender Umsatzsteuer-Vergütungsanspruch nach allgemeinen Grundsätzen nicht in die Steuerberechnung der Insolvenzmasse einzubeziehen ist, sondern in die Steuerberechnung des vorinsolvenzlichen Bereichs eingeht und dort saldiert wird, ohne dass der Saldierung § 96 Abs. 1 Nr. 3 der Insolvenzordnung (InsO) entgegenstünde. Die Norm § 55 Abs. 4 InsO sei weder direkt noch analog anwendbar. 

Sachverhalt: Vorläufiges Insolvenzverfahren und Umsatzsteuer-Vergütungsansprüche 

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist Insolvenzverwalter der Insolvenzschuldnerin, über deren Vermögen mit Beschluss des zuständigen Amtsgerichts am 27. Februar 2015 das vorläufige Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Der Kläger wurde zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt und das Insolvenzverfahrens am 01. Juli 07.2015 eröffnet. 

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt - FA -) setzte mit Umsatzsteuerbescheid vom 27. Dezember 2016 für die Masse des Jahres 2015 (01.07- 2015 bis 31.12.2015) die Umsatzsteuer gegenüber dem Kläger mit geschätzten Besteuerungsgrundlagen fest. Hiergegen legte der Kläger Einspruch ein und legte gleichzeitig eine Umsatzsteuererklärung für die Masse vor. Anschließend reichte der Kläger eine Aufstellung über die Umsätze und Vorsteuerbeträge ein, die er in die Zeit vor Insolvenz (01.01.2015 bis 26.02.2015), das vorläufige Insolvenzverfahren (27.02.2015 bis 30.06.2015) und das Insolvenzverfahren (01.07.2015 bis 31.12.2015) aufgliederte. Für den Zeitraum des vorläufigen Insolvenzverfahrens ergaben sich Vergütungsansprüche in Höhe von 67.552,14 Euro€. 

Streitpunkt: Zuordnung der Vorsteuerüberhänge zur Insolvenzmasse oder dem vorinsolvenzlichen Bereich

Im nachfolgenden Einspruchs- und Klageverfahren machte der Kläger geltend, dass im Umsatzsteuerbescheid für die Masse des Jahres 2015 (01.07- 2015 bis 31.12.2015) Vorsteuerüberhänge aus dem vorläufigen Insolvenzverfahren nicht zum Abzug gebracht wurden. 

Sowohl das FA als auch das Finanzgericht (FG) lehnten die Berücksichtigung dieser Vorsteuerüberhänge in direkter oder analoger Anwendung des § 55 Abs. 4 InsO ab. 

Entscheidung des BFH: Keine Anwendung von § 55 Abs. 4 InsO auf Umsatzsteuer-Vergütungsansprüche 

Der XI. Senat des BFH hat in Anknüpfung an die Rechtsprechung des VII. Senats des BFH entschieden, dass Vorsteuerüberhänge aus der Zeit des vorläufigen Insolvenzverfahrens in die Jahressteuer des vorinsolvenzlichen Bereichs eingehen und dort saldiert werden, ohne dass der Saldierung § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO entgegen stünde (Rn. 20). Eine hiervon abweichende Zuordnung des Vorsteuerüberhangs des Zeitraums des Insolvenzeröffnungsverfahrens (27.02.2015 bis 30.06.2015) zur Masse ergibt sich auch nicht aus § 55 Abs. 4 InsO (Rn. 24). Das FG hat daher zu Recht abgelehnt, das FA zur Änderung des Umsatzsteuerbescheids für das Jahr 2015 (01.07.2015 bis 31.12.2015) zu verpflichten (Rn. 14). 

Umsatzsteuerliche Einordnung im Insolvenzverfahren: Relevanz für die Praxis

Gemäß § 55 Abs. 4 InsO gelten Umsatzsteuerverbindlichkeiten des Insolvenzschuldners, die von einem vorläufigen Insolvenzverwalter oder vom Schuldner mit Zustimmung eines vorläufigen Insolvenzverwalters oder vom Schuldner nach Bestellung eines vorläufigen Sachwalters begründet worden sind, nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens als Masseverbindlichkeit. 

Hieraus folgt zwar, dass Vorsteuerbeträge abzuziehen sind, die für die § 55 Abs. 4 InsO unterliegenden Voranmeldungszeiträume masseverbindlichkeitsmindernd wirken, jedoch ist § 55 Abs. 4 InsO nicht auch auf Vergütungsansprüche zugunsten der Masse anzuwenden (Rn. 26).

Kein Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO durch Saldierung im vorinsolvenzlichen Bereich

Dies ergibt sich bereits aus dem einschränkenden Wortlaut des § 55 Abs. 4 InsO, der nur Verbindlichkeiten den Masseverbindlichkeiten zuweist (Rn. 27). 

Die Anwendung des § 55 Abs. 4 InsO nur auf Verbindlichkeiten des Insolvenzschuldners aus dem Steuerschuldverhältnis entspricht zudem dem Willen des historischen Gesetzgebers (Rn. 29).

Historische Gesetzesauslegung: Zweck und Grenzen von § 55 Abs. 4 InsO

Der Gesetzgeber verfolgte mit der Einführung des § 55 Abs. 4 InsO unter anderem die Absicht, die Position der öffentlichen Hand als "Pflichtgläubiger" im Insolvenzverfahren gegenüber anderen abgesicherten und bevorrechtigten Insolvenzgläubigern zu verbessern. Dies sei vor allem dadurch gerechtfertigt, dass der Fiskus sich, anders als andere Gläubigergruppen, seine Schuldner nicht aussuchen könne und somit als "Zwangsgläubiger" auch regelmäßig keine Möglichkeiten habe, seine Ansprüche mit Sicherheiten zu unterlegen.

Zudem könne die Tätigkeit eines vorläufigen schwachen Insolvenzverwalters dazu führen, dass weitere Steuerrückstande ohne Einflussnahme und zu Lasten des Fiskus entstehen. Weiterhin wurde beobachtet, dass manche schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter ihre Rechtsstellung gezielt ausnutzten, um die Masse durch aktive Gestaltungen zulasten des Fiskus weiter anzureichern (Rn. 30).

Keine analoge Anwendung von § 55 Abs. 4 InsO auf Steuervergütungsansprüche

Das BFH führt weiterhin aus, dass die durch § 55 Abs. 4 InsO stattfindende Umqualifizierung von Verbindlichkeiten, die im Insolvenzeröffnungsverfahren begründet werden, in berechtigter Weise eine Benachteiligung des Fiskus ausgleichen würde, die verfassungsrechtlich und unionsrechtlich zulässig ist. Eine Benachteiligung, die durch § 55 Abs. 4 InsO auszugleichen sei, bestünde bei Vorsteuerüberhängen dagegen nicht (Rn. 34). 

Zudem scheidet eine analoge Anwendung des § 55 Abs. 4 InsO mangels einer planwidrigen Regelungslücke aus (Rn. 38). Es handelt sich bei der Nichteinbeziehung von Steuervergütungsansprüchen um keine planwidrige Regelungslücke, sondern um eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers (Rn. 41). 

Bedeutung für die Sanierungspraxis: Umsatzsteuerliche Beratung im Insolvenzfall 

Der BFH hat mit diesem Urteil eine praxisrelevante Klarstellung zu § 55 Abs. 4 InsO getroffen und stützt sich hierbei auf den Wortlaut, den Sinn und Zweck und die Historie dieser Norm und bezieht auch verfassungs- und unionsrechtliche Aspekte mit ein. Der zu Grunde liegende Sachverhalt zeigt jedoch, wie wichtig die Einordnung der Umsatzsteuer zum richtigen Unternehmensteil in der Insolvenz sein kann, die über eine erfolgreiche Sanierung eines Unternehmens entscheiden kann. Eine rechtzeitige und fachgerechtete umsatzsteuerliche Beratung kann hier ausschlaggebend sein.

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Weiterführende Literatur zu Umsatzsteuer in der Insolvenz: Hinweise auf Fachartikel

Eine von uns veröffentlichte zweiteilige Übersicht zu den praktischen umsatzsteuerlichen Herausforderungen in der Insolvenz finden sich in der Zeitschrift für Bilanzierung, Rechnungswesen und Controlling (BC) 2024, S. 270ff. und S. 319ff. Die oben genannten Fragstellung haben wir bereits in BC 2024, S.319, S. 324 (Fn. 12) thematisiert. 

Der Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Christoph Janetzko verfasst.